„Choix Goncourt de l’Allemagne“: einzigartiges Lehr- und Lernprojekt, das Studierende an Romanischen Seminaren in ganz Deutschland verbindet – mit der aktuellen franzoesischen Literatur und untereinander, initiiert von Freiburg aus
Deutschland wird allgemein als das wichtigste Partnerland Frankreichs in Europa wahrgenommen, war aber erstaunlicherweise sehr lange ein weißer Fleck auf der Landkarte der „Choix Goncourt internationaux“. Der „Prix Goncourt“ ist bekanntlich der wichtigste französische Literaturpreis, der alljährlich im November von der Académie Goncourt für einen Roman verliehen wird, ausgewählt von den zehn Mitgliedern der Académie, deren Einrichtung – genauso die der Preis – auf eine testamentarische Verfügung von Edmond de Goncourt zurückgeht. Dies ist so seit 1903. Seit 1914 wird der Preisträger-Roman gekürt und öffentlich bekanntgegeben im Restaurant Drouant im zweiten Arrondissement von Paris, unweit der Opéra Garnier. Was aber ist der „Choix Goncourt international“?
Seit über 25 Jahren lesen im Rahmen der immer zahlreicher werdenden, immer mehr Länder und Regionen einbeziehenden „Choix Goncourt internationaux“ Studentinnen und Studenten im universitären Kontext, also vor literaturwissenschaftlichem Hintergrund, aber mit literaturkritischem Ziel, Romane von einer der Long- oder Shortlists des Prix Goncourt und wählen ‚ihren‘ Siegerroman. Dann diskutieren sie gemeinsam mit Studentinnen und Studenten aus anderen Universitäten ihres jeweiligen Landes, um am Ende den Siegerroman des jeweiligen Landes zu küren. Diese einzelnen „choix“ veröffentlicht die Académie Goncourt auch auf ihrer Webseite, und nicht selten machen Verlage des Landes dann mit diesem Preis auch Werbung für die später Übersetzung des Romans. Außerdem können sich Studierende – je mehrerer, turnusmäßig wechselnder Länder – mit einer Kritik um einen Platz „Chez Drouant“ bewerben, und die Gewinner dürfen die Preisverleihung des nächstjährigen Prix Goncourt live und in situ mitverfolgen.
Tatsächlich gibt es in allen Nachbarländern Deutschlands – mit Ausnahme von Luxemburg und Dänemark – einen „Choix Goncourt“, aber nicht in Deutschland selbst. Oder sagen wir besser: Es gab ihn nicht. 2023, im Jahr des 60. Jahrestags der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags – des Vertrags, der die Besiegelung der deutsch-französischen Freundschaft nach dem Zweiten Weltkrieg markiert –, hat Henning Hufnagel, aktuell Professurvertreter am Romanischen Seminar der Universität Freiburg, Kontakt zur Académie Goncourt und zur Französischen Botschaft in Deutschland aufgenommen und die Initiative ins Leben gerufen, einen „Choix Goncourt de l’Allemagne“ einzurichten. Schon bald haben sich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen in ganz Deutschland dieser Initiative angeschlossen: an insgesamt 21 Universitäten in allen 16 Bundesländern, in jedem Land mindestens eine Universität; der „Choix Goncourt de l’Allemagne“ deckt also das gesamte Gebiet der Bundesrepublik ab. Am 1. Oktober 2024 ist er auf einer Pressekonferenz in der Zentrale des Institut français in Paris offiziell als 40. „Choix Goncourt international“ vorgestellt worden; die Académie Goncourt stellt ihn ebenfalls auf ihrer Webseite vor: https://www.academiegoncourt.com/le-choix-de-l-allemagne.
Was steht hinter dieser Initiative? Zum einen greift der „Choix Goncourt de l’Allemagne“ spezifische Traditionen der deutschen Romanistik auf, zum anderen stärkt er ihre Internationalisierung, und dies tut er innovativ auf der Ebene der Studentinnen und Studenten. Insofern diese Initiative Studentinnen und Studenten nicht nur an das aktuelle literarische Leben in Frankreich heranführt, sondern sie auf einer transnationalen Ebene daran selbst teilhaben lässt, eröffnen sich neue didaktische und literaturwissenschaftliche Möglichkeiten.
Traditionell beschäftigt sich die deutsche Romanistik auch mit der aktuellen Gegenwartsliteratur, anders als es die „critique universitaire“ in Frankreich lange Zeit hielt. Diese romanistische Tradition reicht bis zu den ‚mythischen‘ Figuren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück – wie Leo Spitzer, Erich Auerbach und Ernst Robert Curtius. Während letzterer heute in der gesamten akademischen Welt für Die europäische Literatur und das lateinische Mittelalter (1948) berühmt ist, analysiert eines seiner frühen Bücher, das bereits während des Ersten Weltkriegs veröffentlicht wurde, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, unter anderem Gide und Claudel, denen Curtius bereits 1925 Aufsätze über Marcel Proust und Paul Valéry hinzugesellte.
Umso überraschender ist es, dass ein „Choix Goncourt de l’Allemagne“ so lange auf sich warten ließ. Mit umso größerem Elan wird er nun gestartet: Am ersten Durchlauf 2024 beteiligen sich fünfzehn Universitäten aus zwölf Bundesländern mit fast 200 Studierenden (während die restlichen sieben Universitäten im nächsten Jahr dazustoßen werden), in alphabetischer Reihenfolge der Bundesländer: Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg, Universität Passau, Freie Universität Berlin, Humboldt-Universität Berlin, Universität Potsdam, Universität Bremen, Universität Hamburg, Justus-Liebig-Universität Gießen, Universität Rostock, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Universität Münster, Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau, Universität Trier, Universität Leipzig, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Ab Beginn des Wintersemesters beschäftigen sich die Studentinnen und Studenten – in je auf die curricularen Bedürfnisse vor Ort abgestimmten Kursen – erst mit dem „Prix Goncourt“ und der aktuellen Longlist, bevor sie – ab der Bekanntgabe am 22. Oktober – die vier Finalisten-Romane lesen und auf Französisch diskutieren. In der ersten Märzwoche 2025 werden zwei Delegierte jeder Universität nach Berlin reisen, um dort in der Runde der vierzehn Universitäten für die Wahl ihres Kurses – wiederum auf Französisch – zu werben und schließlich gemeinsam einen Sieger-Roman auszuwählen. So bietet der „Choix Goncourt de l’Allemagne“ den Studentinnen und Studenten eine Erfahrung mit Literatur, die an der Universität normalerweise nicht gängig ist, und schafft ein Netzwerk unter jungen Französischleserinnen und -lesern in ganz Deutschland: Er dient dem Erwerb und der Praxis von Kompetenzen im Rahmen ihrer universitären Ausbildung, und er eröffnet auch die Möglichkeit, dies als Chance zu nutzen, persönliche literarische Bildung zu erwerben und zu erweitern.